Nachrichtenbeitrag

Steiner als ein Pionier der modernen Emergenztheorie ?

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Von NNA-Korrespondent Wolfgang G.Vögele

BUCHBESPRECHUNG | Band 12 der Kritischen Ausgabe widmet sich dem Verhältnis von Anthroposophie zu Natur- und Geisteswissenschaften – Erfolgreiche Pioniertat von Christian Clement

STUTTGART (NNA) – Vor zehn Jahren startete der renommierte Stuttgarter Wissenschaftsverlag fromman-holzboog erstmals eine textkritische Ausgabe der Grundlagentexte der Anthroposophie. Der Herausgeber Christian Clement nahm damals ein Wagnis auf sich, das von Kritikern mit Recht als eine editorische Pioniertat bezeichnet wurde.

Von den geplanten 16 Bänden der Kritischen Ausgabe von Steiners Schriften (SKA) liegen inzwischen 12 Bände vor; der gerade erschienene Band 12 widmet sich erkenntnistheoretischen Werken Steiners und liefert so wichtige Ansatzpunkte für den Diskurs über Anthroposophie. Das erscheint heute um so wichtiger, als diese in der letzten Zeit einer Welle von Angriffen in der Öffentlichkeit ausgesetzt war – gerade auch hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit dem Mainstream der gegenwärtigen Wissenschaft.

Wie die bisherigen SKA-Bände zeigen, war Steiner von einer rein philosophischen Position über die Adaption und Transformation der anglo-indischen Theosophie von 1902 bis etwa 1910 zur Ausbildung der Anthroposophie in Theorie und Praxis gelangt. Dieser Entwicklungsweg spiegelt sich in dem Motto, das Herausgeber Christian Clement dem nun vorliegenden zwölften Band voranstellte: Das menschliche Denken führe „von traumhafter Bildlichkeit durch vollbewusste Abstraktion zur ebenso vollbewussten Imagination“. Diese zukünftige Stufe zu erreichen, sei nach Steiner die Aufgabe der abendländischen Menschheit (GA 36, 89).

Die Jahre des Ersten Weltkriegs, die ihm eine Beschränkung seiner äußeren Tätigkeit auferlegten, hatte Rudolf Steiner für eine Bilanz seines bisherigen Denkens genutzt. So entstanden die im neuen SKA-Band enthaltenen Texte, die als „Schriften zum Verhältnis der Anthroposophie zu den Natur- und Geisteswissenschaften“ zu verstehen sind. Man hat sie aufgrund ihrer Titel, die sich vermutlich an Haeckels „Welträtsel“ anlehnen, auch „Rätselschriften“ genannt. Steiner wollte sein Forschungs- und Wissensparadigma vor der etablierten Wissenschaft rechtfertigen, die ihr eigenes Paradigma als alleingültig ansah. Ihr gegenüber bestimmte er in neuer Weise seinen Standort. Mittels neuer Sprach- und Argumentationsformen erschloss er weitere Bereiche seiner Forschung.

In Vom Menschenrätsel (1916, GA 20) setzt er sich mit der mitteleuropäischen Geistestradition, vor allem mit den Denkern des deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) auseinander, stellt aber auch eine vergessene Strömung (I.H. Fichte, Troxler, Planck) dar und schildert Intellektuelle aus seiner österreichischen Heimat, die er zum Teil persönlich kannte (u.a. Schröer, Steinwand, Hamerling, Carneri).

Die Schrift Von Seelenrätseln(1917, GA 21) enthält u.a. eine Auseinandersetzung mit dem Psychologen Max Dessoir und dessen Buch Vom Jenseits der Seele. Steiner setzt hier die Anthroposophie in Bezug zur Philosophie, Psychologie und Physiologie. Auch entwirft er hier erstmals eine neue Sinneslehre, eine Dreigliederung des menschlichen Organismus und eine ergänzende Methode der Bewusstseinsschulung.

In Goethes Geistesart(1918, GA 22) wendet sich Steiner ausschließlich dem künstlerischen Schaffen zu. Anhand von Goethes Märchen und Faust zeigt er, dass sich auch in Kunst und Literatur Anknüpfungspunkte finden, die wie Vorläufer anthroposophischen Denkens erscheinen. Diese Schrift enthält drei zu unterschiedlichen Zeitpunkten verfasste Goethestudien, die sich auch in Ton und Stil voneinander unterscheiden. Faust als Bild einer esoterischen Weltanschauung (1902), sei noch von einem idealistischen Missionseifer geprägt, Clement nennt ihn „unausgegoren“, im Vergleich mit den „gediegenem wohlfomulierten Ausführungen“ des reifen Steiner: Goethes Geistesart (1918) ist die überarbeitete Fassung seines zu Goethes 150. Geburtstag (1899) erschienenen Aufsatzes „Goethes geheime Offenbarung“.

Steiner grenzt sich ab von mystischer Esoterik mit ihren unklaren Gefühlen und Ahnungen, wie sie in theosophischen Kreisen lebte, da sie für ihn eine Regression in vormoderne Bewusstseinszustände darstellten. Er betont dagegen den Wert des Denkens. Ebenso tritt Steiner jenen entgegen, die seine Forschungsmethode für un- ja antiwissenschaftlich halten. Bis heute türmen sich sprachliche Barrieren auf, z.B. vor Steiners unüblichem Verständnis von „Geisteswissenschaft“, die für ihn Wissenschaft des Geistes im Sinn von Hegel ist.

Da in der gegenwärtigen philosophischen Debatte der innere Zusammenhang von Freiheit und Bewusstheit als zentrales Thema diskutiert wird,[1] hofft Clement, dass die Texte des vorliegenden Bandes, nicht nur historisches und akademisches Interesse wecken, sondern zugleich als ein substantieller Beitrag zum philosophischen und politischen Gespräch erkannt werden.

Befangenheiten auf beiden Seiten

Johannes Kiersch stellt in seiner Einleitung fest, das Gespräch zwischen etablierter Wissenschaft und Anthroposophen sei bis heute von beiderseitigen Befangenheiten belastet. Anthroposophen seien vorwiegend an den spirituellen Inhalten der Steiner-Gesamtausgabe interessiert.[2] Sie fassten diese oft als geschlossenes Lehrsystem auf, das man bewahren und verteidigen müsse. Steiners Aufforderung, seine Äußerungen kritisch zu prüfen, überhörten sie. Autoren wie Lindenberg oder David M. Hoffmann, die versuchen, Steiners Entwicklung in seinen Entwicklungsstadien zu verstehen, habe man beargwöhnt, nichtanthroposophische Autoren, die Entsprechendes darstellten, seien als Gegner bekämpft worden. Die Gesinnungsgemeinschaft der Anthroposophen befinde sich bis heute „von wenigen Dissidenten abgesehen, in einer Eigenwelt, die stellenweise sektenhafte Züge angenommen hat“. Kiersch zufolge dürfe die anthroposophische Bewegung kein elitärer Binnenraum werden, der sich vor einer als feindlich angesehenen Außenwelt abschotte.

Aber auch die akademische Steiner-Forschung, von den Erfolgen der Anthroposophen herausgefordert, sei befangen: Sie bewege sich in den engen Spielräumen, die ihnen das reduktionistisches Wissenschaftsparadigma erlaube und folge einem „Denkkollektiv“.[3] Sie besitze von daher ebenso methodische Scheuklappen wie die anthroposophische Steiner-Forschung. Akademische Esoterikforschung habe gezeigt, dass spirituelle Vorstellungen seit Jahrhunderten aus dem Bereich seriöser Forschung ausgeschlossen wurden.[4]

Heute werde meist auf Geschichte, gesellschaftliche Praxis und Rezeption der Anthroposophie eingegangen, nicht aber auf diese selbst und ihre Gedankenwelt.

Je nach ideologischer Perspektive könne man fragen: Beruhen Steiners Schilderungen einer übersinnlichen Welt auf subjektiver Phantastik oder auf objektiver Wissenschaft? Ist Steiners Wahrnehmung exakt beschreibbar und intersubjektiv überprüfbar? War er nur Eklektizist oder hat er eine wissenschaftlich tragfähige Methode zur Erforschung seelischer und geistiger Tatsachen entwickelt? Diese Fragen seien keineswegs einwandfrei geklärt. Dabei habe Steiner, wie SKA 12 zeige, seine Wissenschaftstheorie exakt ausformuliert, was auf beiden Seiten der Debatte weitgehend ignoriert werde. So habe Heiner Ullrich (2015) diese Schriften nicht einmal im seinem Literaturverzeichnis erwähnt, auch Helmut Zander (2007) berühre sie nur oberflächlich. Schon früher hatte Kiersch moniert, dass Von Seelenrätseln als ein „wissenschaftstheoretisches Hauptwerk“ zu wenig beachtet worden sei.[5]

Steiner habe schon 1905 eine Methodenlehre der übersinnlichen Forschung angekündigt. Idealismus und Emergenztheorie seien Steiners biographische Ausgangsunkte gewesen. Auf ein frühes Erweckungserlebnis Steiners beim Lesen eines Schelling-Textes habe Christoph Lindenberg hingewiesen.[6] Wie Heusser (2011) und Amrine (2017) darlegten, gehöre Steiner zu den Pionieren der modernen Emergenztheorien. Wie diese habe er erkannt, dass das Auftreten komplexerer Zusammenhänge auf jeder höheren Stufe des Seins sich nicht auf Elemente der jeweils niedrigeren Stufe zurückführen lassen. Anthroposophische Forscher hätten Steiners phänomenologische Ansätze erweitert.

Steiner arbeitete seit 1904 innerhalb der Theosophischen Gesellschaft als Weisheitslehrer besonders für den engeren Kreis der „Esoterischen Schule“ (ES). Aber schon im Sommer 1906 habe er sich von dieser Rolle eines Guru distanziert. In der von ihm vertretenen „rosenkreuzerischen“ Mystik erscheine der Lehrer nur noch als Berater und Anreger.

Kiersch betrachtet Steiner im Licht der Kulturphilosophie Ernst Cassirers.Wie dieser betrachte auch Steiner das Bilden von Beziehungen als die ursprüngliche Aktivität des menschlichen Bewusstseins. Cassirers Symbolismuslehre könne als Verständnishilfe für Steiners Denken fungieren.[7]

Der Bologna-Vortrag

Als Ergänzungstext wurde Steiners Vortrag „Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretischeStellung der Theosophie“ aufgenommen, den er am 8. April 1911 auf dem 4. Internationalen Philosophen-Kongress in Bologna hielt (GA 35). Dies geschah unmittelbar nach Vollendung seines anthroposophischen Grundlagenwerks Die Geheimwissenschaft im Umriss. Wie Kiersch in seinem Vorwort schreibt, habe Steiner mit seinem Kongress-Vortrag seinen ersten und einzigen Schritt in die akademische Öffentlichkeit gewagt. Darin gibt er eine detaillierte psychologische Begründung und Einbettung in eine umfassende Theorie des spirituell erweiterten menschlichen Wissens. „Steiner argumentiert gegen die verfehlte Theorie der ‚Subjekt-Objekt-Spaltung‘ in der Sinneslehre und die dadurch gestützte Auffassung, das menschliche Bewusstsein sei nicht in der Lage, sich selbst zu transzendieren.“ Das Ich lasse sich nicht eingeschlossen in den Leib, sondern außerhalb in den Dingen selbst denken. Der Leib diene nur als Spiegel des Ich. Steiner diskutiert dabei alle dagegen möglichen Bedenken und Einwände.[8]

Ergänzend sei auf einige äußere Umstände dieses Vortrags und seine Rezeption hingewiesen. Der Präsident des Kongresses, der römische Mathematikprofessor Federico Enriques ließ auch Referenten zu Wort kommen, die außerhalb des akademischen Lehrbetriebs standen. So waren etwa mit Beiträgen beteiligt: der Adyar-Theosoph Bhagavan Das, der Lebensphilosoph Hermann Graf Keyserling und Vertreter des Haeckelschen Monismus. Laut den Kongressakten fand nach Steiners Referat eine lebhafte Debatte statt, in der sich Steiner u.a. den Fragen des bekannten polnischen Philosophen Wincenty Lutoslawski stellte.

Es läge im Interesse der Anthroposophie, wenn der neue, philosophisch äußerst anspruchsvolle SKA-Band dazu beitragen könnte, Steiners Intentionen auf wissenschaftstheoretischem Gebiet ernster zu nehmen als bisher. Er bietet eine gute Basis für weitere Forschungen und zeigt auch, dass es durch die Kontextualisierung möglich wird, das Werk von Rudolf Steiner neu zu bewerten – ein Werk, auf dessen Basis eine geistige Strömung entstanden ist, die sich zur bedeutendsten esoterischen Bewegung des 20. Jahrhunderts entwickelt hat.

 [1]  Vgl. Philipp Schinck (Hg.): Freiheit. Zeitgenössische Texte zu einerphilosophischen Kontroverse. Frankfurt a. M. 2017.

[2] Das zeigt sich schon an den Auflagenzahlen der Bände der Gesamtausgabe: Die Geheimwissenschaft erreichte bisher 32, Vom Menschenrätsel und Von Seelenrätseln jeweils nur 5 Auflagen.

[3] Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M. 1980.

[4] Wouter J. Hanegraaff: Esoteric and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, 2012.

[5] Johannes Kiersch: „Steiners Esoterik im veränderten Umfeld“. Erziehungskunst, 12/2007, S. 1369 f.

[6] Christoph Lindenberg: Rudolf Steiner. Eine Biographie. Stuttgart 1997, S. 84.  

[7] Johannes Kiersch: „Rudolf Steiner, Ernst Cassirer und Jean Piaget. Skizze eines denkbaren Zusammenhangs“, RoSE -Research on Steiner Education, Vol. 5, No.I, 2014; Ders.: „Brücken bauen. Steiners pädogogische Menschenkunde und die Kulturanthropologie Ernt Cassirers“. In: Erziehungskunst 1/2004, S. 41-47.

[8] Vgl. Rudolf Steiner, Andreas Neider (Hg.): Das gespiegelte Ich. Der Bologna-Vortrag – die philosophischen Grundlagen der Anthroposophie. Vorwort von Andreas Neider. 1.Aufl. Dornach 2007. Sergej O. Prokofieff: Der Einweihungsweg Rudolf Steiners und das Geheimnis des Ich. Ein Beitrag zum Bologna-Vortrag Rudolf Steiners. Dornach 2011.

END/nna/vog

Literaturhinweis:

Rudolf Steiner: Schriften. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Christian Clement. Band 12: Schriften zum Verhältnis der Anthroposophie zu den Natur- und Geisteswissenschaften. Frommann-holzboog Verlag Stuttgart 07/2023, 64, 472 S. 3 Abb. Ln. € 178, 00. ISBN 978-3-7728-5112-4.

 Bericht-Nr.: 240208-02DE Datum: 8. Februar 2024

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