Nachrichtenbeitrag

„Bin ich denn noch ein Mensch?“

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Von NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

STUTTGART (NNA) - Dem unfassbaren Geschehen des Holocaust haben sich viele Künstler des 20.Jahrhunderts gestellt und es zum Thema ihrer Arbeit gemacht. Filme wie „Shoah“ von Claude Lanzmann oder Bücher wie der „Roman eines Schicksalslosen“ von Imre Kertes-z sind so entstanden. Weniger bekannt sind die Werke derjenigen Künstler, die selbst Betroffene des Holocaust waren und sich mit ihren künstlerischen Mitteln dagegen zur Wehr gesetzt haben. Die Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis“ des jüdischen Komponisten und Anthroposophen Viktor Ullmann, die im KZ Theresienstadt entstand, ist ein Beispiel dafür. Beim Stuttgarter Musikfest wurde sie jetzt im Rahmen des Thementages „Verfolgter Glaube“ konzertant aufgeführt.

Es war sicher einer der bewegendsten Opernabende der diesjährigen Stuttgarter Saison, zu der sich ein gemischtes Publikum im Theaterhaus versammelt hatte. Alte wie junge Menschen füllten den Saal und die Spannung vor der Aufführung war spürbar. Wie kann jemand unter täglicher Todesbedrohung seine künstlerische Kreativität bewahren und der Nachwelt einen Eindruck vermitteln, wie er authentischer kaum sein kann? Über 20 Werke hat Viktor Ullmann - am 8.September 1942 aus Prag nach Theresienstadt deportiert und zwei Jahre später in Auschwitz ermordet – unter den extremen Bedingungen des Lebens im KZ geschaffen. Die meisten von ihnen hat er deportierten Kollegen gewidmet. Ullmann wird in der Musikwissenschaft als Schüler Arnold Schönbergs geführt – würde die moderne Zwölftonmusik das angemessene Ausdrucksmittel liefern für das, was eigentlich nicht darzustellen ist?

Die Textvorlage für Ullmanns Oper hat der Grafiker Peter Kien geschrieben, der 1944 ebenfalls in den Gaskammern von Auschwitz starb. In vier Szenenfolgen entfaltet sich die Handlung, musikalische Intermezzi grenzen sie teilweise voneinander ab. Im ersten Bild geht es um den Zustand der „armen Welt“. Menschen, die nicht mehr lächeln können – auch über ihn nicht – beklagt der Harlekin. Selbst der Tod – eine Hauptfigur der Oper – fühlt sich als „kleiner Handwerker des Sterbens“ angesichts der aktuellen Verhältnisse. Gemeint sind die motorisierten Verbände, die in Bewegung gesetzt werden, als Kaiser Overall von Atlantis den „Krieg aller gegen alle“ ausruft. Die Szene endet damit, dass der Tod sich der Mitwirkung an Kaiser Overalls „großen segensreichen Krieg“ verweigert. Er leistet somit Widerstand.

Im Zentrum des zweiten Bildes steht eine Exekution, die Overall angeordnet hat. Doch weder der Henker noch das Erschießungskommando können sie aufgrund der mangelnden Mitwirkung des Todes in die Tat umsetzen. Es bleibt dabei, dass der Lautsprecher – Overalls einziger Gesprächspartner in dieser Szene - nur vermelden kann: „Der Tod muss jeden Augenblick eintreten.“ Als Overall merkt, dass sich ihm der bewährte Gehilfe zur Erhaltung seiner Macht verweigert, nutzt er die Lage zu seinen Gunsten. Er lässt verkünden, dass er ein Geheimmittel zum Erhalt des Lebens gefunden habe, das seinen verdienten Soldaten zugutekomme.

Im dritten Bild sind es nun zwei Menschen, die sich in einer tödlichen Bedrohungssituation gegenüberstehen, ein einfacher Soldat und ein bewaffnetes Mädchen. Auch hier bewirkt der Schuss nichts, den sie auf ihn abfeuert. Im Kampf, der folgt, vollzieht sich eine Annäherung, beide erinnern sich an eine Welt, die „hell und bunt“ ist, wo es Landschaften ohne Granattrichter gibt, Worte, die „nicht schroff und spröd“ sind und Berge „blau von strahlender Luft.“ Die Bedrohung schwindet und Liebe erwacht zwischen den beiden. Nun ist zwar „alles versöhnt“, aber eine Zukunft im Leben gibt es für sie nicht. Auf ein Happy End kann im KZ niemand hoffen, auch die Liebe kann lediglich den Tod verschönen, heißt es im Duett des Liebespaares.

Im letzten Bild spitzt sich die äußere wie innere Lage zu: Empörte stürmen ein Hospital für lebende Tote und auch der Harlekin beschwört die Welt, wie sie einmal war. „Wir haben das Unrecht der Welt mit reinen Gedanken zersplittert“, singt er. Später stellt er die Frage: “Bin ich denn noch ein Mensch? “. Der Trommler, eigentlich ein Verkünder Overalls, will von dieser Frage zunächst nichts wissen, lässt sie dann aber doch an sich heran: „Wie sieht ein Mensch aus? Seit Jahren ist der Spiegel verhängt!“.

Die Frage nach dem Menschsein erreicht schließlich auch den Kaiser. Im Spiegelbild, das er enthüllt, steht ihm der Tod gegenüber. Dieser lädt das „angstgehetzte Leben“ in sein stilles und friedevolles „gastlich Haus“ ein und macht den Kaiser darauf aufmerksam, dass der Krieg jetzt aus ist. Ohne die Mitwirkung des Todes kann der Kaiser seine Herrschaft nicht aufrecht erhalten, sie bricht in sich zusammen. Der Tyrann Overall wird vom Tod hinweg geführt. Im Finale begrüßen auch die Menschen den Tod als „werten Gast in unsers Herzens Kammer“. Es erklingt der Choral von Martin Luther „Ein feste Burg ist unser Gott“ in einer nachkomponierten Version, eines von mehreren musikalischen Zitaten, die Ullmann in seine Komposition eingefügt hat. So zieht sich z.B. das Todesthema aus Josef Suks Asræl Sinfonie durch die ganze Oper und in einer Arie des Harlekin wird aus dem fünften Satz von Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ zitiert.

Wer in der Aufführung durchgehend die Atonalität der Zwölftonmusik erwartet hatte, war am Ende überrascht. Starke musikalische Akzente, die der Dramatik der einzelnen Szenen gerecht wurden, wechselten sich ab mit den eher harmonischen Intermezzi. Das Publikum durchlebte so eine musikalische Dynamik, die für Ullmanns Werk charakteristisch ist. In der Einleitung zum Programmheft wird hier auf den Einfluss von Alban Berg auf Ullmann verwiesen. Berg habe, so wird Ullmann zitiert, die Musik von der „Atonalität“ zur „Tonalität“ zurückgeführt, allerdings zu einer neuen, welche „Konvention und Tradition überwunden“ habe. Ullmann selbst ging es nach seinen eigenen Worten darum, „die Kluft zwischen der romantischen und der ‚atonalen’ Harmonik aus-zufüllen.“ Wie im Text so wurde auch in der Musik vor allem in den Zwischenspielen der Allgegenwart des Todes immer wieder das Leben in seiner Schönheit und Harmonie entgegengesetzt.

Man kann sich vorstellen, dass es genau diese Wirkung war, die das künstlerische Schaffen von Menschen wie Viktor Ullmann den Insassen des KZ Theresienstadt gegeben hat. Die Generalprobe der Oper konnte stattfinden, dann wurde sie verboten. In der für 5000 Menschen erbauten Garnison Theresienstadt lebten 60.000 Menschen unter unsäglichen Bedingungen im Angesicht des Todes. Unter Duldung der SS-Kommandantur entwickelte sich jedoch auch ein umfangreiches Kulturleben. Ullmann war Leiter des Studios für Musik in Theresienstadt, wo er für die Aufführung von Werken der Mithäftlingen Pavel Haas, Hans Krása und Gideon Klein sowie von Hába, Schönberg und Zemlinsky sorgte. Ob sich die Darstellungen in der Oper „Der Kaiser von Atlantis“ unmittelbar auf das NS-Regime beziehen, ist in der Musikwissenschaft umstritten. Die musikalischen Zitate, die Ullmann eingebaut hat, sprechen dafür, heißt es dazu im Programmheft.

Das Publikum des ungewöhnlichen Opernabends in Stuttgart zeigte sich beeindruckt: „Ullmann ist ein großer Komponist“, „Was für ein Mut gehört zu so einem Stück!“, „Es hat mich sehr nachdenklich gemacht“ waren Kommentare, die nach der Vorstellung ausgetauscht wurden. Gerade der Wechsel der musikalischen Sprache habe die Darstellung besonders bewegend gemacht, äußerte ein Zuhörer, der auch mit den schrilleren, extremeren Darstellungsformen der Zwölftonmusik gerechnet hatte.

Unter den Besuchern der Vorstellung fanden sich auch Lehrer, die sich die Oper unter dem Gesichtspunkt angeschaut hatten, sie im Unterricht zu verwenden. „Ein ganz dichtes Stück“, das bei entsprechender Vorbereitung wegen seiner Authentizität absolut geeignet sei, befanden sie im Anschluss.

Die Oper, die im vollen Titel „Der Kaiser von Atlantis. Die Tod-Verweigerung op.58“ heißt, wurde von der Bachakademie im Rahmen des Thementages „Verfolgter Glaube“ eigens für das diesjährige Musikfest in Auftrag gegeben. Der Dirigent Titus Engel und das Dresdner Ensemble Courage – in der Mehrzahl junge Musiker – studierten das Werk ein. Die Solisten waren: Herman Wallén (Kaiser Overall), Martin Busen (Der Lautsprecher), Marko Spehar (Der Tod), Michæl Laurenz (Harlekin/Soldat), Maren Jacob (Mädchen) und Daniela Sindram (Der Trommler).

In der Musikwissenschaft wird Viktor Ullmann als eine der herausragenden Musikerpersönlichkeiten der zwanziger und dreißiger Jahre des 20.Jahrhunderts gewertet und gilt als persönlicher Schüler Schönbergs. Ullmanns eigner Stil war aber auch von seiner Hinwendung zur Anthroposophie Rudolf Steiners beeinflusst.

Durch seinen Prager Kollegen Alois Hába, den Erfinder der Viertelton-Musik, war Ullmann schon 1919 auf die Anthroposophie aufmerksam gemacht worden, die er aber zunächst ablehnte. Der Umschwung ergab sich nach einer von Hába geleiteten Exkursion junger tschechischer Musiker nach Dornach im Jahr 1929. Beeindruckt durch diese Erfahrung entschloss sich Ullmann, der Anthroposophischen Gesellschaft beizutreten. Wichtig für ihn war auch seine Zeit in Stuttgart vor 1933, wo er zwei Jahre lang eine anthroposophische Bücherstube betreute und so in Kontakt mit vielfältigem Schrifttum von Rudolf Steiner und von Autoren aus dessen Umfeld kam. Hier fand er auch das Drama „Der Sturz des Antichrist“ von Albert Steffen, das er 1936 als Grundlage für eine Oper verwendete. Mit diesem Werk hatte der anthroposophische Dichter Steffen bereits 1927 eine prophetisch warnende Vorwegnahme der kommenden Hitlerdiktatur veröffentlicht.

Ullmann kehrte 1933 nach Prag zurück, wo er bis 1942 als freischaffender Musiker wirkte. Durch die sich zuspitzende politische Lage sah er sich und seine Familie zunehmend bedroht. Nachdem die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland schon 1935 verboten worden war, betraf dieses Verbot auch sukzessive alle von Hitlerdeutschland besetzten Staaten, 1938 Österreich und 1939 die Tschechische Republik. Emigrationspläne Viktor Ullmanns scheiterten. Im Oktober 1944 wurde er zusammen mit seiner Ehefrau Elisabeth in einem der letzten Massentransporte aus dem KZ Theresienstadt nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.

Ullmann war nicht der einzige jüdische Anthroposoph, der in Auschwitz umgekommen ist. Unter anderem erlitten dieses Schicksal das Malerehepaar Hilde und Richard Pollak aus Dornach und die Geigenlehrerin Alice Wengraf aus Wien. Wengraf war mit der Witwe von Alban Berg eng befreundet. In Briefen an ihre Freundin betont die Musikerin, wie wichtig für sie die Anthroposophie als Kraftquelle in dieser Situation der Bedrohung gewesen sei.

End/nna/ung/vog

Literaturhinweis: Ingo Schultz (2008): Viktor Ullmann. Leben und Werk, Kassel.

Bericht-Nr.: 120913-01DE Datum: 13. September 2012

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