Nachrichtenbeitrag

Die britische Demokratie am Siedepunkt

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Von NNA-Chefredakteur Christian von Arnim

LEITARTIKEL | Die Entscheidung der britischen Regierung, das Parlament in verlängerte Ferien zu schicken und es damit daran zu hindern, seinen Einfluss auf den Brexit-Prozess geltend zu machen, ist zutiefst anti-demokratisch.

Erinnern Sie sich an die Fabel vom kochenden Frosch? Wenn der Frosch in kochendes Wasser geworfen wird – so die Fabel – würde er direkt herausspringen, weil er merkt, wie heiß das Wasser ist. Wenn er dagegen in lauwarmes Wasser geworfen wird, das nach und nach erhitzt wird, erkennt er die Gefahr nicht, bis es zu spät ist und er sich nicht mehr selbst retten kann. Das Ergebnis: ein toter Frosch.

Ersetzen Sie den Frosch in der Fabel durch die Demokratie in Großbritannien und wir haben eine perfektes Bild für das, was gegenwärtig im Land passiert. Vor drei Jahren wurde mit dem Erhitzen des Wassers begonnen und nun ist es fast am Siedepunkt. Der anti-demokratische Kurs, den die Regierung von Boris Johnson verfolgt, stellt den Versuch dar, die unbequeme parlamentarische Untersuchung aus ihrer Entscheidungsfindung über ein Ziel, das die Zukunft des Landes fundamental und für lange Zeit verändern wird, zu verbannen. So handeln Diktatoren.

Souveränität – wessen Souveränität?

Wir sprechen hier über den Brexit, der angeblich die Souveränität desselben britischen Parlaments wieder herstellen sollte, das die Regierung jetzt schachmatt setzt, damit keine bedeutsame Opposition mehr möglich wird gegen die extreme Variante eines No-Deal-Brexit, den Johnson und sein Kabinett durchziehen wollen.

Nur um uns selbst daran zu erinnern, wer die Leute sind, die da handeln: unter anderen Außenminister Dominic Raab, der offensichtlich die Bedeutung des Hafens von Dover für den britischen Handel übersehen hat, als er Brexit-Minister war; oder Innenministerin Priti Patel, die wegen des Verstoßes gegen den ministeriellen Verhaltenscodex von der früheren Regierung gefeuert worden ist. Und dann ist da noch der Premierminister selbst, Boris Johnson, von dem jeder weiß, dass er ein gespaltenes Verhältnis zur Wahrheit hat. Gleich, unter welchem Blickwinkel man Kompetenz, Ethik und Kennzeichen der extrem rechten neoliberalen Politik der Johnson Regierung betrachtet – am Ende enthüllt sich stets eine Charakteristik, deren raffinierte Machenschaften nur ein Ziel haben: die Aushöhlung der Demokratie.

Erste Anzeichen für den Versuch, das Parlament zu umgehen und seinen Einfluss zu unterminieren – das Aufheizen des Wassers also – konnten bereits vor drei Jahren zu Beginn des Brexitprozesses ausgemacht werden, wenn führende Brexiters jede weitere bedeutsame Debatte über den Gegenstand des Referendums ausschließen wollten und Gegner als „Feinde des Willens des Volkes“ denunzierten. Als das Oberste Gericht in einem Fall dazu gebracht wurde, die Rechte des Parlaments zu verteidigen, indem er entschied, dass die Legislative ein Mitspracherecht haben müsse beim Verlassen der EU und nicht die Regierung einfach den Exit erklären könne, wurden die Richter als „Feinde des Volkes“ beschimpft. Liz Truss, zu dieser Zeit Justizministerin und nun erneut Mitglied im Kabinett Johnson, brauchte lange, bis sie sich zu einer lauwarmen Verteidigung der Richter durchrang.

Gefährlich heißes Wasser

Inzwischen ist das Wasser gefährlich heiß geworden. Aber wird es der Frosch merken, bevor es zu spät ist? Der Aufruhr quer durch alle politischen Lager, den Johnson mit seinem Vorstoß verursacht hat, könnte uns beruhigen, einschließlich der scharfen Verurteilung durch die Regierungen von Wales und Schottland. Aber diese Beruhigung hält nicht lange – es gibt zu viele, die denken, dass Johnsons Vorgehen bei einer derart wichtigen nationalen Angelegenheit wie dem Brexit legal und gerechtfertigt ist. Das Parlament zu suspendieren könnte zur Gewohnheit werden für jede Regierung, die sich einer für sie unbequemen Opposition gegen ihre Pläne gegenübersieht.

Boris Johnson ist nur das letzte Glied in einer ständig wachsenden Kette von rechtspopulistischen autokratischen Regierungschefs, die denken, dass Demokratie nicht wirklich zu ihnen passt – denken wir an Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan, Jair Bolsenaro, Viktor Orban. Noch nie waren wir so stark gefordert, unsere Demokratien wachsam und wehrhaft zu schützen. Und wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass parlamentarische Verfahren, die in anderem Kontexten legitim sind, auch von denen benutzt werden können, die darauf abzielen, die Demokratie zu untergraben.

Boris Johnsons Suspendierung des Parlaments ist ein schlagendes Beispiel dafür und wir können es nicht besser formulieren als der Sprecher des House of Commons, John Bercow: „ Gleich, wie es dargestellt wird, es ist klar offensichtlich, dass der Zweck der „prorogation“ [Suspendierung] darin besteht, eine Debatte des Parlaments über den Brexit zu unterbinden und es zu hindern, seiner Pflicht nachzukommen und einen Kurs für das Land zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt – einer der größten Herausforderungen in der Geschichte unseres Landes – ist es lebensentscheidend, dass unser Parlament das Sagen hat. Schließlich leben wir in einer parlamentarischen Demokratie“.

Noch…

END/nna/cva/ung

Bericht-Nr.: 190828-01DE Datum: 28. August 2019

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Das britische Parlament. Die Regierung versucht zu verhindern, dass die Parlamentarier den Brexit-Prozess beinflussen.<br>Foto: Richie Chan / Shutterstock.com