Nachrichtenbeitrag

„Ohne ehrliche Erinnerung gibt es keine gute Zukunft“

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Von NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

90 Holocaust-Überlebende sind aus der Ukraine nach Deutschland evakuiert worden. Bei einem russischen Raketenangriff Anfang März wurde auch das Gelände der Gedenkstätte Babyn Jar getroffen und legt „Geschichte von Gewalt und Völkermord“ offen.

FRANKFURT/BERLIN (NNA) – Es sind nur 90 Personen und sie machen lediglich einen Bruchteil der mehr als 850.000 Geflüchteten aus, die seit dem russischen Angriff auf die Ukraine in Deutschland Zuflucht gefunden haben – aber ihre Ankunft in Deutschland verweist auf ein Stück europäische Geschichte, das in den Archiven ruht und jetzt durch die russische Kriegspropaganda in ihr Gegenteil verkehrt wird.

Die Rede ist von Holocaust-Überlebenden, die derzeit Aufnahme in Altersheimen in Deutschland finden, auf abenteuerliche Weise werden sie im Krankenwagen aus dem Kriegsgebiet evakuiert. Das Schicksal der hochbetagten jüdischen Flüchtlinge dokumentiert nach den Worten von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier den „bösartigen Zynismus“ des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der den Überfall auf die Ukraine mit einer angeblichen „Entnazifizierungsaktion“ begründet hatte.

Auch Gedenkstätten wie das Holocaust Memorial Museum in Washington kritisieren diese Umdeutung der Geschichte durch Putin und verurteilen den Angriff auf die Ukraine scharf. Das Museum stehe an der Seite der ukrainischen Bevölkerung – einschließlich der Tausenden von Holocaust-Überlebenden, die sich noch auf dem Gebiet der Ukraine befinden, heißt es in einer Erklärung des Museums. Sie sind die letzten Überlebenden der größten jüdischen Bevölkerung der Vorkriegszeit, das heutige Gebiet der Ukraine war mit rund drei Millionen Menschen einer der Schwerpunkte jüdischen Lebens in Osteuropa – und damit auch ein Schwerpunkt des Völkermords im Holocaust.

Evakuierung

Zum Zeitpunkt des russischen Angriffs im Februar lebten in der Ukraine noch 10.000 Holocaust-Überlebende – registriert auf den Listen der Jewish Claims Conference, einer in Frankfurt ansässigen Organisation, die Entschädigungsleistungen und Unterstützung an die Holocaust-Überlebenden auszahlt. Die Organisation erkannte schnell, dass vor allem die pflegebedürftigen unter ihnen in der Ukraine nicht weiter betreut werden konnten und organisierte mithilfe der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) Möglichkeiten ihrer Evakuierung.

Es sind Menschen, die als Kleinkinder mit ihren Eltern vor den Nazis fliehen mussten oder die deutsche Besatzung in Verstecken überlebt haben. Die erneute Flucht im hohen Alter ruft in ihnen schlimme Erinnerungen wach. Bundespräsident Steinmeier traf eine Gruppe von Evakuierten in der Pflegestätte El Jana in Berlin, wie Medienberichte zeigen, war Steinmeier tief berührt von der Begegnung mit diesen höchst vulnerablen Geflüchteten. Es breche ihm das Herz, sagte er, diese Menschen zum zweiten Mal in ihrem Leben auf der Flucht zu sehen und nicht zu wissen, ob sie je zurückkehren können.

Die evakuierten Holocaust-Überlebenden sind in mehreren Bundesländern untergekommen. Insgesamt gibt es in Deutschland acht vollstationäre Einrichtungen der Altenpflege in jüdischer Trägerschaft. Da dort aber nicht genügend Plätze zur Verfügung standen, mussten sie auch in anderen Einrichtungen in der Nähe von jüdischen Gemeinden aufgenommen werden. Plätze wurden von Sozialverbänden wie der Caritas, der Diakonie oder dem Paritätischen Wohlfahrtsverband vermittelt.

Die Bundesregierung hat den Aufenthaltsstatus der Holocaust-Überlebenden aus der Ukraine dem der jüdischen Kontingentflüchtlinge gleichgestellt, sie können unbegrenzt in Deutschland bleiben. Aron Schuster, Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) würdigte in einem Interview das Engagement in Deutschland für die Holocaust-Überlebenden – zumal die Altenhilfe aufgrund der Pandemie vor großen Herausforderungen gestanden habe.

Sicherer Zufluchtsort

Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland betonte, für viele Juden aus der Ukraine sei Deutschland jetzt „ein sicherer Zufluchtsort und vielleicht eine neue Heimat“. Das sei angesichts der deutschen Geschichte keine Selbstverständlichkeit. Doch Deutschland komme seiner historischen Verantwortung nach und öffne seine Türen für jüdische Vertriebene.

Mit der sog. Operation Barbarossa, dem Einmarsch der Reichswehr in Russland im Juni 1941 erreichte der an den europäischen Juden verübte Völkermord des NS-Regimes einen Höhepunkt. Mobile Einsatztruppen ermordeten systematisch die jüdische Bevölkerung auf dem Gebiet der heutigen Ukraine.

In der größten Massenerschießung während des Holocaust, dem Massaker von Babyn Jar, einer Schlucht in der Nähe von Kiew, wurden 33.771 jüdische Menschen innerhalb von zwei Tagen ermordet. Als „Holocaust by bullets (Kugeln)“ bezeichnet die Geschichtswissenschaft das Vorgehen der Einsatzgruppen an vielen Orten der heutigen Ukraine. Insgesamt wurden 916 Massengräber gefunden nach dem Zweiten Weltkrieg.

Als sich am 6.Oktober 2021 die Präsidenten von Israel, Deutschland und der Ukraine, Jitzchak Herzog, Frank Walter Steinmeier und Wolodomir Selenski in Kiew zu einer Gedenkveranstaltung an das Massaker von Babyn Jar trafen, wies Steinmeier in seiner Rede darauf hin, dass die Opfer des Holocaust in der Ukraine zu wenig im Bewusstsein der Deutschen sind. Viel zu blass sei die Ukraine auf der deutschen Landkarte der Erinnerung bisher, viel zu schemenhaft verzeichnet, sagte er. Aber: „Ohne ehrliche Erinnerung gibt es keine gute Zukunft“.

Er sei nach Kiew gekommen, um daran zu erinnern, „wohin entfesselter Hass und Nationalismus, Antisemitismus und Rassenwahn führen können“, betonte Steinmeier im Oktober 2021 – vier Monate später sind Hass und Nationalismus durch den russischen Angriff auf die Ukraine erneut grausame Realität geworden, das Gebiet um Kiew steht unter Beschuss der russischen Artillerie.

Geschichte der Gewalt und des Völkermords

Bei dem Raketenangriff auf den Fernsehturm von Kiew am 1. März wird dann auch das Gelände der Gedenkstätte Babyn Jar getroffen, ebenso ein Gebäude, in dem die ukrainische Regierung 2023 ein Zentrum des Gedenkens errichten wollte. Die Rechercheagentur Forensic Architecture hat den russischen Raketenangriff auf den Fernsehturm von Kiew analysiert und nachgewiesen, dass auch das Gebiet von Babyn Jar betroffen war.

Forensic Architecture hatte zusammen mit dem Center for Spatial Technologies (CTS) in Kiew das Gebiet von Babyn Jar rekonstruiert und damit erstmals seine genaue Lage bestimmt. Es war in den 60er Jahren zu Zeiten der Sowjetunion eingeebnet worden. Es sei eine „Geschichte der Gewalt und des Völkermords“, die auf dem Gelände unter Trümmern und Erdschichten verborgen liegt – „aber durch den neuerlichen Angriff wird sie wieder an die Oberfläche gebracht“, betont Forensic Architecture.

Die topographische Rekonstruktion des Babyn Jar Geländes legt verschiedene historische Schichten offen – „unverbundene Ereignisse aus verschiedenen Zeiten, die dadurch in einen nicht einfachen Dialog miteinander treten“, so die Rechercheagentur. Zum Vorschein kamen jüdische, russisch-orthodoxe und muslimische Friedhöfe aus dem 19. Jahrhundert, Schluchten, die von den deutschen Einsatzgruppe als Massengräber in den 40er Jahren genutzt worden sind, zugeschüttet, wieder geöffnet und erneut von den deutschen Besatzern verwendet bei der Ermordung von Roma, ukrainischen politischen Gefangenen und sowjetischen Kriegsgefangenen. Es fanden sich außerdem Spuren der Schlacht um Kiew 1943.

Zu Zeiten der ukrainischen Sowjetrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das ganze Gebiet eingeebnet – dies könne man als Versuch werten, auch alle Traumata, von denen es Zeugnis ablegen könne, zuzudecken.

Nahtlos füge sich so der russische Raketenangriff ein in die Geschichte des Geländes, betont Forensic Architecture – mit einer neuen Schicht von Trümmern und Erde den erneuten Akt der Gewalt und Zerstörung zu verschleiern – aber auch die Wahrnehmung des Angriffskrieges als solchen zu negieren.

Investigative Ästhetik

Forensic Architecture wurde 2011 von dem israelischen Architekten und Menschenrechtsaktivisten Eyal Weitzmann gegründet, die Rechercheagentur untersucht weltweit Fälle von staatlicher Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Zum Einsatz kommen technologische Mittel, Architektur und Forensik. Satellitenaufnahmen werden ausgewertet, Bilder aus den sozialen Medien analysiert. Objekte der Recherche waren z.B. auch US-Drohnenangriffe in Pakistan oder das berüchtigte Foltergefängnis Sednaja des Assad-Regimes in Syrien.

Die Ermittlungsergebnisse von Forensic Architecture finden Eingang in Gerichtsverfahren, aber sie werden auch in Galerien und Museen ausgestellt. So entsteht eine „Investigative Ästhetik“, die auf Wissen, Ökologie, Architektur, auf Mikrogeschichte setzt und dabei auch Enthüllungsplatformen wie WikiLeaks und Bellincat einbezieht. Im Zeitalter der sozialen Medien soll damit auch eine neue Form der Annäherung an die Wahrheit ermöglicht werden.

END/nna/ung

Bericht-Nr.: 2200703-05DE Datum: 3. Juli 2022

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Portraits von Opfern des Massakers von Babyn Jar. Die Gedenkstätte wurde Anfang März bei einem russischen Raketenagriff getroffen. (Foto: paparazzza/Shutterstock)