Nachrichtenbeitrag

Radioaktivität als moralische Herausforderung

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Von NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

LEIPZIG (NNA) - Der Ablauf der Ereignisse um das Atomunglück in Fukushima hat erneut deutlich gemacht hat, dass das Denken der Gegenwart dem Umgang mit der „Naturkraft Radioaktivität“ nicht gewachsen ist. Ihre Auswirkungen werden bis ans Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus eine dramatische Herausforderung für die Menschheit bleiben. Diese Thesen standen im Mittelpunkt einer Veranstaltung mit dem Physiker und Theologen Dr. Hans-Bernd Neumann, zu der die anthroposophischen Verlage auf der Leipziger Buchmesse eingeladen hatten.

 

„Anthroposophie und die Zukunft der Erde“ war der Titel des diesjährigen Programms der Verlage, zu dem zahlreiche Autoren zu Veranstaltungen nach Leipzig gekommen waren. Auch Neumanns Thesen stammen aus seinem Buch, das in diesem Jahr erschienen ist (siehe Literaturhinweis).

Als „Scheinsicherheit“ bezeichnete er die gegenwärtige Informationslage zum Reaktorunglück in Japan. Die Politik der Verantwortlichen sei vor allem geprägt von der Absicht, keine Beunruhigung oder Panik bei der Bevölkerung hervorzurufen. So grenze die verbreitete Aussage von der „kalten Schnellabschaltung“ des havarierten Reaktors an eine Lüge, betonte Neumann. Niemand wisse, was in den Reaktorblöcken tatsächlich passiert sei: „Das sind alles nur Vermutungen“. Die Anlagen seien so hoch radioaktiv, dass man bestenfalls in zehn Jahren zu präzisen Erkenntnissen über die Lage in ihrem Innern gelangen könne.

Die atomare Bedrohung, die von Fukushima ausgehe, verschwinde bereits wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein. Wie schon beim Atomunfall von Tschernobyl gebe man sich der Illusion hin, dass es sich um einen Einzelfall handele. „Bei Tschernobyl konnte man die Missstände in der damaligen Sowjetunion verantwortlich machen, jetzt ist es der Betreiber Tepco“, meinte Neumann. Dem stelle er seine These entgegen, dass die Menschheit der Gegenwart ein grundsätzliches Problem im Umfang mit der Radioaktivität hat.

Unser „von der Logik geprägtes Denken“ sei den Kräften, die im 20.Jahrhundert von den Forschern entdeckt worden sind, nicht gewachsen. Durch die Atomspaltung, aber auch durch die Möglichkeit der Zerteilung des Zellkerns und durch die sich gegenwärtig neu ausbreitende Nanotechnologie sei die Wissenschaft an eine Grenze gelangt. An einer vergleichbaren Schwelle sieht Neumann auch Kunst und Religion. Wie in der Kunsttheorie Kandinskys und in der modernen E-Musik der wahrnehmende Beobachter zum Teil des Kunstwerks werde, so ziehe z.B. auch die Unschärferelation eines Werner Karl Heisenberg oder auch die Quantenmechanik ein neues Verständnis von Erkenntnis und Realität nach sich. Die Wirklichkeit entstehe danach auch aus dem Bewusstsein des Menschen. Die in der Antike entwickelte und im modernen Denken herrschende Logik gehe von einem Richtig oder Falsch aus und werde diesen neuen Entdeckungen nicht mehr gerecht.

Mit dem Bewusstsein der Gegenwart ist die „Naturkraft Radioaktivität“, mit der die Atomanlagen betrieben werden, von daher prinzipiell nicht beherrschbar. Neumann unterstrich außerdem die Gefahren, die weltweit drohen durch geologisch unhaltbare Standorte, die erdbebengefährdet seien oder auch durch ungeeignete Betreibermannschaften. Ein „tragbares Restrisiko“ könne es bei Radioaktivität nicht wirklich geben. Plutonium mit seiner Halbwertzeit von mehr als 500.000 Jahren sei „eine der gefährlichsten Substanzen der Erde.“

Der Referent erläuterte die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung auf die Lebensprozesse, er bezeichnete sie als „Angriff auf die Fähigkeit, lebendig zu bleiben“. Das Entscheidende dabei seien die langfristigen Wirkungen. Auch bei dem Unglück in Fukushima seien nur wenige Opfer von Primärstrahlung geschädigt worden, die kurz- oder mittelfristig zum Tode führe, weil die Zellen ihre Fähigkeit zur Aufnahme von Wasser verlieren. Die eigentlichen Auswirkungen werden seinen Worten zufolge verstärkt gegen Ende des Jahrhunderts bei den nachfolgenden Generationen als gentechnische Veränderungen auftreten. Es sei eine „Geste der Radioaktivität“, das Leben der Zukunft zu bedrohen. Durch die Globalisierung und die Vermischung der Völker sei damit zu rechnen, dass sich die gentechnischen Veränderungen weit über die eigentlich betroffenen Gebiete hinaus verbreiten.

Neumann wies in diesem Zusammenhang auf die derzeit schon bestehenden Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik hin. Nehme man diesen Gedanken dazu, zeige sich, welche enormen moralischen Herausforderungen durch die Nutzung der Radioaktivität auf die Menschheit zukommen.

Der Referent versah die „Naturkraft Radioaktivität“ abschließend daher mit einem „Fragecharakter“: „Wie werden wir mit dem Menschsein in Zukunft umgehen“, lautete eine der Fragen, die sie stelle und „Was können wir auf einer tieferen Ebene jetzt schon tun, um unsere Lebenskräfte zu stärken und Lebensprozesse in Gang zu setzen“ die zweite.

Eine der Nachfragen des Moderators der Veranstaltung, INFO3-Chefredakteur Dr.? Jens Heisterkamp, galt einem Beinaheunfall im Jahr 2006 im Kernkraftwerk Forsmark in Schweden, den Neumann erwähnt hatte. Nur durch regelwidriges Verhalten eines Mitarbeiters sei eine Kernschmelze damals verhindert worden, erläuterte Neumann und belegte damit einmal mehr seine These von der anhaltenden Gefahr durch die Nutzung der Atomkraft.

Für Zuschauer des Fernsehprogramms ARTE, die Anfang März den Themenabend aus Anlass des Jahrestags der Reaktorkatastrophe in Japan gesehen hatten, bot der Abend mit Neumann im Leipziger Mendelsohn Haus einen erschütternden, weil bestätigenden Hintergrund (siehe Link).

Auch ARTE hatte in seinem Beitrag zum Jahrestag von Fukushima aufgezeigt, wie das wahre Ausmaß der Katastrophe vor den Menschen innerhalb und außerhalb von Japan vertuscht wird und dass die Gefährdung, die von dem havarierten Reaktor ausgeht, keineswegs der Vergangenheit angehört.

Die ARTE-Reporter hatten japanische Wissenschaftler bei Messungen begleitet, die von den japanischen Behörden an dieser Tätigkeit gehindert worden waren. Auf eigene Faust hatten sie direkt nach dem Unglück Messungen der Strahlenbelastung in den verschiedenen Sperr- und Evakuierungsgebieten durchgeführt. Ein Teil der Forscher war auch an Forschungen rund um den Unglücksreaktor in Tschernobyl beteiligt gewesen, von daher flossen Vergleiche mit der Situation dort in die Analyse in Japan mit ein. Danach ist die Verstrahlung in der Sperrzone um Fukushima 14mal höher als in dem entsprechenden Gebiet in Tschernobyl.

Nach Auffassung der japanischen Wissenschaftler wurde die Bevölkerung auch nicht gemäß den vorliegenden Strahlenwerten evakuiert, sie fanden sog. Hot Spots mit hohen Strahlenwerten auch außerhalb des Sperrgebiets und nicht tolerierbare Werte außerhalb der Evakuierungsgebiete. ARTE zitierte einen Bericht der Zeitschrift „Nature“, nach dem außerhalb des Sperrgebiets auch Plutonium gefunden worden sein soll.

Erwähnt wurde in der Sendung auch – was Neumann auf Nachfrage ebenfalls bestätigte und was in der Öffentlichkeit in Deutschland kaum bekannt sein dürfte, dass sich auf dem Gelände in Fukushima ein Lager von Brennstäben befindet und zwar in Block vier, über dessen Verfassung ebenfalls keine genauen Informationen vorliegen. 1500 Brennstäbe werden in einem Abklingbecken aufbewahrt, die sich bei einem Defekt der Kühlung auch wieder aktivieren könnten. Im ARTE-Bericht wurden sie als „tickende Zeitbombe“ bezeichnet. Käme es hier zu einer Havarie, wäre eine Evakuierung im Radius von 250 km nötig - Japans Hauptstadt Tokio wäre unweigerlich betroffen.

End/nna/ung

Literaturhinweis: Hans-Bernd Neumann: Radioaktivität und die Zukunft des Menschen Urachhaus Verlag 2012

www.arte.tv/de/Das-Ende-des-Atomzeitalters-/6391500.html

Bericht-Nr.: 120318-01DE Datum: 18. März 2012

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