Nachrichtenbeitrag

Wachwerden für weltweite Probleme ein Verdienst der 68er Bewegung

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Von Prof. Christoph Strawe

Vor 50 Jahren vereinte die 68er Bewegung die Jugend vieler Länder. Für Christoph Strawe besteht eine ihrer wichtigsten Wirkungen im „Wachwerden für weltweite Probleme und die Solidarität mit den nächsten und fernsten Betroffenen“.

STUTTGART (NNA) – Sie steht für eine Bewusstseinsveränderung auf vielen Gebieten und auch für eine politische Aufbruchsstimmung, deren Wirkung bis heute zu spüren ist: Die Rede ist von der 68er Bewegung, die vor 50 Jahren die Jugend vieler Länder vereinte. Prof. Christoph Strawe hat ihre Wirkungen in der Zeitschrift „Sozialimpulse“ unter die Lupe genommen.

Es sei der „Bazillus der 68er“, der die Bundesrepublik infiziert habe und ihr politisches Klima bestimme, argumentieren derzeit die Rechtspopulisten und begründen damit ihr Vorhaben, nationalen und konservativen Werten wieder zu mehr Geltung zu verhelfen. Aber welche Wirkungen hat die weltweite Jugendbewegung der 68er tatsächlich entfaltet und welches Fazit lässt sich heute ziehen?

Die 68er Bewegung sei eine „soziale Kulturbewegung“ gewesen, getragen von einem Wandel des Bewusstseins und der Lebensstile, schreibt Strawe. Die Beatles, das Woodstock-Festival, die Hippie-Bewegung und die sexuelle Revolution seien Stichworte, die diesen Umbruch kennzeichneten. Die 68er Bewegung habe eine ganze Generation geprägt, auch wenn Teile der Bevölkerung ihr kritisch gegenüber gestanden hätten.

Ihren Anfang nahm die Bewegung in den USA als Protest gegen den Vietnam-Krieg und als antirassistische Bürgerbewegung. In Deutschland eskalierte sie mit dem Besuch des Schah in Berlin 1967 und dem brutalen Einsatz von Schlägertrupps gegen Demonstranten bei diesem Besuch. Die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg habe „das Fass zum Überlaufen gebracht“, betont Strawe und die Menschen aus ihrem politischen Schlummer gerissen.

Als ein Jahr später ein Attentat auf Rudi Dutschke verübt wurde, für das die Studentenbewegung der Hetze der Springer Presse gegen die Studenten verantwortlich machte, eskalierte die Lage weiter. Die Empörung führte zu den Osterunruhen und Versuchen, die Auslieferung der Springer-Zeitungen zu verhindern. Die Bewegung breitete sich aus. In Ländern wie in Frankreich solidarisierte sich die Arbeiterbewegung mit den Studenten. Auch in Deutschland war dies von einem Teil der 68er Bewegung beabsichtigt, es gelang jedoch weitaus weniger als in Frankreich, beide Bewegungen zusammenzubringen.

Wachwerden

Für Strawe besteht eine der wichtigsten Wirkungen der 68er Bewegung im „Wachwerden für weltweite Probleme und die Solidarität mit den nächsten und fernsten Betroffenen“. Die Misere der Länder in der Dritten Welt, die globalen Wirkungen einer primär am Profit orientierten Wirtschaft, der Hunger, unter falschen Vorwänden begonnene Kriege an anderen Enden der Welt waren Themen, die die jungen Menschen in den 60er Jahren in Bewegung brachten.

Zu den Verdiensten der 68er Bewegung habe auch die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins gegenüber den Problemen von Bildung und Wissenschaft gehört. Man habe die Bedeutung gleicher Bildungschancen erkannt und Anstoß genommen an den verstaubten und überkommenen Strukturen der Hochschulen. Bekannt sei eine Szene bei der Rektoratsübergabe in Hamburg geworden, bei der auf einem Transparent der „Muff von 1000 Jahren unter den Talaren“ angeprangert worden war.

Im Zentrum der Kritik stand die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft, man kämpfte gegen eine Wissenschaft im Dienst von Krieg und Vernichtung. Im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz könne man auf der damaligen Kritik der instrumentellen Vernunft aufbauen, schreibt Strawe.

Auch die anderen Themen der 68er Bewegung sind nach wie vor aktuell. Viele Fortschritte habe die Bewegung nicht direkt, sondern indirekt bewirkt z.B. bei der Gleichstellung der Frauen, beim Scheidungsrecht oder beim Schwangerschaftsabbruch.

ndigkeit

Insgesamt habe die 68er Bewegung tiefe Wirkungen hinterlassen. Sie habe „nicht nur Fenster geöffnet, durch die der Mief der Adenauer-Ära“ habe entweichen können. Es dürfe auch bezweifelt werden, ob es ohne die 68er eine sozialliberale Koalition und einen Kanzler Willy Brandt gegeben hätte. Ohne dessen neue Ostpolitik sei der Umbruch in Europa 1989 schwer denkbar ebenso wie ohne den vorausgehenden Prager Frühling, der für Strawe auch zur 68er Bewegung gezählt werden muss.

Als Grundimpuls der 68er sieht Strawe einen Impuls zur Mündigkeit, der sich „antiautoritär“ gegen jede Bevormundung gerichtet habe. Damit hätten bei der 68er Bewegung untergründig Impulse gelebt, wie sie von Rudolf Steiner in der Dreigliederungsidee formuliert worden seien.

Auch die Gründung der Partei der Grünen und damit die stärkere Beachtung des Umweltthemas stellen für Strawe eine „späte Frucht“ der 68er Bewegung dar. Selbst wenn mancher den 68ern Verrat an ihren alten Ideen vorwerfen sei nicht zu bestreiten, dass sie „in der Gesellschaft angekommen“ seien.

Nach der Zersplitterung der 68er Bewegung in verschiedene Gruppen machten sich Teile der Bewegung auf den „Marsch durch die Institutionen“. Andere hätten sich Nischen gesucht, um ihre Ideale zu verwirklichen, daraus entstanden Bürgerinitiativen oder selbstverwaltete Betriebe. Auch der Boom der Gründung vieler Waldorfschulen lasse sich zum Teil hier einordnen.

Man könne der 68er Bewegung sicherlich Inkonsequenzen und Fehler vorwerfen, unbestreitbar sei jedoch, dass sie in vieler Hinsicht Fortschritte bewirkt habe, so das Fazit von Strawe.

END/nna/ung

Der vollständige Text von Christoph Strawe erscheint auch in der Novemberausgabe der Zeitschrift Erziehungskunst.

Bericht-Nr.: 181008-01DE Datum: 8. Oktober 2018

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