Nachrichtenbeitrag

Wieviel Fichte steckt im Werk von Rudolf Steiner?

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Von NNA-Korrespondent Ansgar Martins

Das Steiner-Jubiläumsjahr 2011 hat der Anthroposophie Öffentlichkeit in hohem Maß beschert. Drei renommierte Verlage warfen viel diskutierte Biographien auf den Markt (NNA berichtete). Ohne Schlagzeilen blieb demgegenüber eine philosophische Einordnung des Werks des Begründers der Anthroposophie: Hartmut Traubs Titel „Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners. Grundlegung und Kritik.“ Ansgar Martins hat sich das Buch für NNA angeschaut.

STUTTGART (NNA) - Mehr als 1000 Seiten umfasst die Monographie, die sich den philosophischen Grundlagenwerken Steiners widmet. In vier Teilen unterzieht das Buch zunächst Rudolf Steiners Dissertation von 1891 und deren überarbeitete Publikation mit dem Titel „Wahrheit und Wissenschaft“ (1892) einer präzisen textkritischen Analyse. Es folgt die „Philosophie der Freiheit“ (1894) und schließlich der vierte Teil „Über die philosophischen Ursprünge der Theosophie und Anthroposophie Rudolf Steiners“.

Seite für Seite rekonstruiert und kommentiert Traub die genannten philosophischen Werke Steiners. Dabei vermeidet er die Haltung vieler anthroposophischer Autoren, die bei ihrer Interpretation des „frühen“ Steiner bereits dessen spätere esoterischen Positionen im Blick haben.

Weil er keine Diskussion scheut und auch bei Nebenschauplätzen von Steiners philosophischen Werken weder an Zustimmung noch Fundamentalkritik spart, mutet Traub seinen Lesern manche Längen zu. Die Lektüre seiner philosophischen Querverweise und Exkurse lohnt sich trotzdem: So werden nahezu unbekannte Facetten des „frühen“ Steiner hervorgehoben. Traubs These: Steiners „philosophische Schriften leben zu einem beträchtlichen Teil von ihrer Polemik“. So bestünden etwa die Hälfte der „Philosophie der Freiheit“ aus polemisch-kritischen Auseinandersetzungen mit zentralen oder auch marginalen Gestalten und Positionen der Philosophie- und Geistesgeschichte.

Diese polemische Intention betrachtet Traub zwar einerseits als Stärke, die Steiner als Querdenker kenntlich mache, zum andern liege darin aber auch die große Schwäche seines Werks. Insbesondere Steiners massive Kritik an Kants Erkenntnistheorie beruhe vor allem auf einem Missverständnis Kants. Steiner renne hier „gegen die Windmühlen der eigenen Phantasie an“, meint Traub und vergleicht Steiner in diesem Punkt mit Don Quichotte.

Bei dieser Oberflächen-Kritik der Motive Steiners bleibt Traub aber nicht stehen. Kenntnisreich situiert er den Denker im philosophischen Diskurs seiner Zeit – und fördert dabei erneut Perspektiven zutage, die der bisherigen Steiner-Forschung widersprechen: Nicht nur Goethe, Nietzsche oder der Anarchist Max Stirner seien die großen Gestirne am weltanschaulichen Himmel des „frühen“ Steiner gewesen. Vielmehr seien Gedanken und Argumente Immanuel Kants und Johann Gottlieb Fichtes zentral. Vor allem die Ich-Philosophie Fichtes habe Steiner lange vor seiner Auseinandersetzung mit anderen Philosophen „intensiv in sein eigenes Denken aufgesogen“. Der Vergleich Steiners mit dem Idealisten Fichte zieht sich entsprechend wie ein roter Faden durch das Buch.

Neben der tatsächlichen Bedeutung Fichtes für Steiners Philosophie spiegelt sich in dieser Schwerpunktsetzung aber auch Traubs eigener Kontext: Er ist Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. So muss man auch sein Urteil, Steiner habe „nicht nur die zentralen Themen seiner Philosophie“, sondern auch Argumente und Vorgehensweisen „ohne jeden Abstrich oder originellen Zusatz aus der Philosophie Fichtes übernommen“ (S. 298), mit einem Fragezeichen versehen. Die Publikationen und Aufsätze Steiners, in denen Nietzsche oder Stirner tatsächlich seine zentralen Referenzen sind, liegen etwa zeitlich nach der „Philosophie der Freiheit“ (vgl. „Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit“, GA 5 und zu Stirner etwa „Der Egoismus in der Philosophie“ in: GA 30) und kommen deshalb in Traubs Analyse allenfalls am Rande vor.

Ähnlich zwiespältig ist auch der letzte Teil von Traubs Buch, der die philosophischen Grundlagen der Theosophie und Anthroposophie Rudolf Steiners thematisiert. Zu Recht weist Traub darauf hin, dass Steiners Esoterik wichtige Themen des deutschen Idealismus wieder aufgreife: Es gibt eine Reinkarnationslehre bei Lessing und – wieder – bei Fichte Konzepte von geistiger Anschauung oder mystischem Christentum, die Steiners „anthroposophischer Forschungsmethode“ stark ähneln. Vor allem weist Traub auf Immanuel Hermann Fichte – Sohn des eben erwähnten – hin, der bereits einen Weltanschauungskosmos mit dem Namen „Anthroposophie“ entwickelte. All diese Gemeinsamkeiten sind nicht zu leugnen, aber im Detail sagen sie doch nichts über den spezifischen Inhalt von Steiners Anthroposophie: Wo bei ihm von Eingeweihten, Ätherleibern, planetarischer Evolution oder Stationen der Seele nach dem Tod die Rede ist, liegen die inhaltlichen Parallelen deutlich näher bei der Theosophie Blavatskys als bei der Bewusstseinsphilosophie Fichtes.

Trotz dieser problematischen Züge ist Traubs Buch ein wichtiger Beitrag zum Diskurs um das Werk Rudolf Steiners. Seine Diskussion der philosophischen Positionen Steiners ist eloquent und facettenreich – und die Frage nach Steiners literarischen Vorlagen und Stichwortgebern ist nach wie vor ein heißes Eisen, das zuletzt der Religionswissenschaftler Helmut Zander angefasst hat. Auch wenn er Zander stellenweise stark kritisiert, befürwortet Traub dessen historisch-kritischen Stil: „Spätestens mit Zanders zweibändigem opus magnum über die ‚Anthroposophie in Deutschland‘ ist Rudolf Steiner in der akademischen Welt, dem Ort, an den es ihn zeit seines Lebens – wenn auch ohne Erfolg – hinzog, angekommen.“

Der Anstoß zu Traubs Buch kam im Jahr 2006 von der anthroposophisch geprägten Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft. Dort wurden in einem Forschungskolloquium über mehrere Semester kontroverse Fragen zum Thema Philosophie und Anthroposophie gestellt. „Leider konnte das vielversprechende Projekt nicht zu einem Abschluss geführt werden“, meint Traub und betont, dass diese Ansätze wesentlich in seine Untersuchung eingeflossen seien.

Sein Thema ist ungebrochen aktuell: Im September 2011 fand etwa an der Fachhochschule Ottersberg eine Tagung zum Thema „Anthroposophie im Hochschulkontext – Herausforderung und Chance“ statt, an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität promoviert derzeit die Historikerin und Religionsphilosophin Merle Ranft zum Thema „Der Philosoph Rudolf Steiner“. Traub hat mit seinem Buch eine anregende Zwischenbilanz geliefert und auf weitere Beiträge zum Diskurs um Philosophie, Wissenschaft und Anthroposophie darf man gespannt sein.

END/nna/ams

Literaturhinweis: Hartmut Traub: Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners. Grundlegung und Kritik, Kohlhammer Verlag, München 2011.

Bericht-Nr.: 120302-01DE Datum: 2. März 2012

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