Nachrichtenbeitrag

Woran werden wir uns aus 2022 erinnern?

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Von Tom Engelhardt

ESSAY | Nation (Un) Building und Planeten (Un) Building, d.h. Abbau statt Gestaltung: Wie der us-amerikanische Politikstil nicht nur die eigene Nation gefährdet – Ein Rückblick

(NNA) – Lassen Sie mich das Jahr 2022 mit einem Blick zurück beginnen – nur kurz.

Es wird leicht vergessen, wie lange diese Welt ein gefährlicher Platz für jedes menschliche Wesen war. Darüber habe ich neulich nachgedacht, als ich auf ein kleines Notizbuch meiner Tante Hilda stieß, das sie vor Jahrzehnten geführt hatte. Darin las ich:  „Ich habe meinen Schulabschluss während dieser furchtbaren Epidemie der Spanischen Grippe im Jahr 1919 gemacht – und habe ihn  bekommen.“ Schlimm genug, dass sie dann doch nicht studieren konnte, aber darüber schreibt sie weiter nichts.

Ich bin immer noch schockiert. In all den Jahren, als mein Vater und seine Geschwister noch am Leben waren, sprachen sie von Zeit zu Zeit über die Vergangenheit. Aber weder sie noch meine Mutter haben jemals diese schreckliche Grippewelle von 1919 – 1920 erwähnt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass jemand von meiner Familie von der Spanischen Grippe betroffen war. Tatsächlich war es so, dass ich – bevor ich John Barry’s Buch von 2005 The Great Influenza gelesen hatte – noch nicht einmal wusste, dass eine Pandemie damals die USA (und den Rest der Welt) heimgesucht hatte am Beginn des letzten Jahrhunderts – es ist schon bemerkenswert, wie diese Covid-19 vergleichbare, jedoch wesentlich schlimmere Pandemie einfach aus den Geschichtsbüchern verschwunden ist – und auch aus den Erinnerungsbüchern der meisten Familien.

Das sollte uns alle verblüffen. Schließlich fielen damals wahrscheinlich 50 Millionen Menschen den verschiedenen Wellen dieser gefürchteten Krankheit zum Opfer – oft starben sie einen grausamen Tod und auch in unserem Land wurden sie manchmal in Massengräbern beigesetzt. Einige der Kontroversen, die wir gerade erlebt haben z.B. über das Tragen von Masken, gingen auch damals in einer ähnlichen, bitteren Weise weiter, bevor dieses globale Desaster aus dem Gedächtnis gestrichen worden ist. Niemand von meinem Bekannten, deren Eltern diesen Alptraum durchlebt haben, hatte darüber etwas von ihnen gehört in Kindheit und Jugend.

Sich ducken und bedecken

So war die kurze Notiz meiner Tante eine Erinnerung daran, wie lange wir in einer gefährlichen Welt gelebt haben und dass sie in gewisser Weise in den letzten Jahrzehnten nicht weniger gefährlich geworden ist. So blieb am Ende der Gedanke, wie oft wir – wie es mit der tödlichen Grippewelle aus der Epoche des 1.Weltkriegs passiert ist – solche Schrecken lieber vergessen wollen oder mindestens aus Bequemlichkeit bei Seite schieben.

Schließlich war es ja auch so, dass unser Land während meiner Kindheit und Jugend im Gefolge der nuklearen Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki begann, ein wachsendes Arsenal von nuklearen Waffen anzuhäufen – ein Weg, auf dem die Sowjetunion bald folgen sollte. Wir sprechen hier von Waffen, deren Potenzial unseren Planeten mehrfach hätte auslöschen können und es kam uns in diesen Jahren des Kalten Kriegs auch nicht selten so vor, dass dies unser Schicksal sein könnte. Ich höre noch Präsident Kennedy im Radio sprechen während der Kuba Raketen Krise 1962 – ich war damals gerade ein Erstsemesterstudent im College –  und wir alle an der Ostküste dachten, dass es unser Ende sein könnte (und fast wäre es es auch gewesen!)

Um dieses mögliche Schicksal für realistisch zu halten, sollte man in Erinnerung behalten, dass das US-Militär zwei Jahre zuvor den sog. Single Integrated Plan eines Atomkrieges gegen die Sowjetunion und China entwickelt hatte. Er sah so aus, dass in einem „Erstschlag“ mit 3.200 Atomraketen 1.060 Ziele in der kommunistischen Welt angegriffen werden sollten, einschließlich 130 Städte. Wenn alles „gut ginge“ würden diese aufhören zu existieren. Die offiziellen Schätzungen der potenziellen Opfer beliefen sich auf 285 Millionen Tote und 40 Millionen Verletzte – wenn man bedenkt, was damals alles nicht bekannt war über die Auswirkungen radioaktiver Strahlung, um nicht vom „nuklearen Winter“ zu sprechen, der im Falle eines solchen Angriffs über den Planeten hereingebrochen wäre, kann man ohne Zweifel nur von einer grotesken Unterschätzung der Konsequenzen sprechen.

Wenn man heute über diesen Plan nachdenkt – falls das überhaupt jemand tut – sollte Jonathan Schells‘ berühmtes Zitat, das Schicksal der Erde habe auf dem Spiel gestanden, uns immer noch fassungslos machen. Jedenfalls war bis zum 6. August 1945 Armageddon  ein Thema nur für Götter.  In meiner Jugendzeit war es allerdings schwer zu vergessen, dass die Möglichkeit einer menschengemachten Katastrophe bestand, die die Existenz der Welt beenden würde und das nicht nur wegen der Kuba-Raketen-Krise. In der Schule nahmen wir teil an Atomkriegsübungen („sich ducken und bedecken“ unter unseren Schulbänken) genauso wie wir Feueralarmübungen machten und wie heute auch viele Schulen spezielle Übungen, Active Shooter drills, durchführen, da sie Amokläufe fürchten. Hinzu kamen die Symbole für nukleare Schutzräume, an denen man draußen beim Spaziergehen vorbeikam, während die Medien regelmäßig darüber diskutierten, wie wohl das Wetter im Fall eines Atomalarms wäre und ob man seine Nachbarn in den privaten Schutzraum lassen sollte oder sich bewaffnen, um sie davon fernzuhalten.

Noch bevor der Kalte Krieg endete, entschwand der Gedanke in einen fernen Hintergrund, dass wir alle mit unserem Planeten in die Luft fliegen könnten, während das Atomwaffenarsenal selbst sich über die Welt verbreitete. Fragen Sie sich einmal selbst: Wie oft denken Sie in diesen Pandemiezeiten darüber nach, dass wir immer noch nur einen Fingerbreit oder zwei entfernt sind von einer nuklearen Katastrophe? Und inzwischen wissen wir, dass auch ein regionaler nuklearer Konflikt zwischen z.B. Indien und Pakistan das Szenario eines nuklearen Winters nach sich ziehen könnte, das Millionen von uns zum Hungertod verdammen würde.

Doch während gerade unser Land plant zwei Billionen Dollar zu investieren in etwas, das „Modernisierung“ des Atomwaffenarsenals genannt wird, sind solche Waffen, abgesehen von Nachrichten über eine mögliche zukünftige iranische Bombe (aber niemals Israels tatsächliche Atomwaffen), nur selten ein Thema. Mindestens zur Zeit ist das Ende der Welt – nuclear style – ein vergessener Teil der Geschichte.

Der gute alte Drang zum Nation-building

Gegenwärtig erschöpft uns der Stress durch eine Neuauflage der Pandemie von 1918 und weitere Stressfaktoren, die sie hervorgebracht hat: der Alptraum der Ablehnung   des Impfens, der Masken, des Social Distancing – Proteste gegen alles, was den Republikanern missfällt, so extrem, dass ihre maskenloser Follower sogar den früheren Präsidenten Donald Trump ausbuhen, wenn er ihnen vorschlägt, dass sie sich impfen lassen sollen.

Die Frage ist: Was repräsentieren die führenden Repräsentanten der Republikanischen Partei? Sicherlich sind sie buchstäblich für massenhafte Todesfälle verantwortlich. Durch den Druck von republikanischen Gouverneuren und anderen Gesetzgebern auf nationaler und lokaler Ebene wurden die Maskenpflicht in Schulen gestoppt, Impfaktionen abgesagt und Ähnliches.

Wenn man davon absieht, was repräsentieren sie außerdem?

Die Antwort findet man, wenn man den globalen Krieg gegen den Terror anschaut. Er wurde von Präsident George W. Bush gestartet und seinem Umfeld in Folge der 9/11-Anschläge. Sie waren der Überzeugung, dass die Welt nun ihnen gehören würde, nachdem die Sowjetunion von der Landkarte verschwunden war und es sei  das Recht der USA, diese Welt nun nach ihrem Gusto zu teilen. Oft wurden die USA die „einzig verbliebene Supermacht“ genannt und ihre Repräsentanten fühlten, es wäre Zeit, entsprechend zu handeln. Wie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seinen Mitarbeitern in den Ruinen des Pentagon nach 9/11 vorschlug: „Lasst uns gründlich vorgehen – aufräumen und alles beiseite wischen, was damit verbunden ist und was auch nicht“.

Er bezog sich nicht nur auf Al Qaida, deren Entführer gerade das World Trade Center und Teile des Pentagon zum Einsturz gebracht hatten, sondern auch auf den autokratischen Herrscher des Irak, Saddam Hussein, der nichts mit dieser Terrorgruppe zu tun hatte.

Mit anderen  Worten, der mörderische Anschlag lieferte den Machthabern im Weißen Haus die perfekte Gelegenheit einer Welt von Zwergen zu zeigen, wie der militärische und ökonomische Riese in dieser Welt handeln sollte.

„Nation-building“ mit der Spitze des Schwertes (oder einer Drone) wurde von Bush aus der Taufe gehoben – auch wenn er selbst einmal gegen solche Bestrebungen gewesen war und seine führenden Mitarbeiter unterstützten diesen Kurs. So wurde – wie später erläutert – auch der Einmarsch in Afghanistan zu einer „letzten Mission des Nation-building“, ebenso wie die Invasion im Irak eineinhalb Jahre später.

Wir wissen alle nur zu gut, dass das Land, das durch seine Streitmacht und sein einzigartig ausgerüstetes Militär als das mächtigste auf diesem Planeten gilt, sich als unfähig erweisen würde, irgendetwas aufzubauen, am wenigsten ein neues System nationaler Institutionen in weit entfernten Ländern, deren Unterwerfung vorausgesetzt wurde. Allein gelassen als Supermacht auf dieser Erde würden die USA zeigen, dass sie der ultimative Dekonstruktor von Nationen sind und auch nicht zögern, die geltende Weltordnung gleich mit zu dekonstruieren.

Verglichen mit dem Irak eines Saddam Hussein ist das Land heutzutage ein chaotisches Durcheinander, während Afghanistan – einst ein stabiler, anständiger Staat (er beherbergte einmal den „Hippie trail“), bevor die Sowjets und die USA dort in den 80er Jahren aufeinandertrafen und die USA 2001 einmarschierten – in eine unvorstellbare Katastrophenzone verwandelt worden ist.

Die Republikanische Partei baut Amerika ab

Das Befremdendste an allem ist aber vielleicht das Folgende: Dieser mächtige, all-amerikanische Drang des 21. Jahrhunderts, Nationen nicht auf-, sondern abzubauen, scheint vom globalen Krieg gegen (oder, wenn man so will für) den Terrorismus nach Hause zurückgewandert zu sein. Als Ergebnis beginnen die USA  - weit entfernt von einem Irak oder von Afghanistan –  jetzt ebenfalls zu einer Nation zu werden, die sich  in einem Abbauprozess befindet.

Ich zweifle nicht daran, dass Sie wissen, was ich meine. Zum Glück hieß die Partei von Donald Trump nie „die Demokratische Partei“, da sie sich gegenwärtig in einem Prozess befindet, „gesetzeskonform“ ihr Bestes zu tun, um das amerikanische demokratische System wie wir es kennen, abzubauen. Was die Partei betrifft, hat dieser Prozess gerade erst begonnen.

Erinnern wir uns daran, dass Donald Trump nie seinen Weg  ins Weiße Haus gefunden hätte und dieser Prozess wäre auch nicht so weit fortgeschritten, wenn unter den vorherigen Präsidenten die Dollars des US-Steuerzahlers nicht genutzt worden wären, um das politische und soziale System von entfernten Ländern so gründlich abzubauen. Ohne die Invasion in Afghanistan und im Irak, nicht zu reden vom kontinuierlichen Krieg gegen IS, al-Shabab und andere expandierende Terrorgruppen, ohne die Abzweigung unseres Geldes in einen immer größer werdenden militärisch-industriellen Komplex und dem radikalen Anwachsen der sozialen Ungleichheit in unseren Land, hätte ein frühere Bankrotteur und Betrüger sich nicht im Oval Office des Weißen Hauses wiedergefunden. Es wäre unvorstellbar gewesen, dass mehr als fünf Jahre später „60% der republikanischen Wähler immer noch seine Lügen glauben“ in einer fast religiösen Art.

In gewisser Weise wurde Trump 2016 gewählt, um ein Land weiter abzubauen, das schon an seinen Nähten auseinanderdriftete. In anderen Worten: Er hätte nicht der Schock sein sollen, der er war. Eine Version eines autokratischen Präsidenten hatte schon vorher zu wachsen begonnen, bevor er dem Weißen Haus nahe kam – oder wie sonst hätten seine Vorgänger diese Kriege im Ausland ohne den geringsten Beitrag des Kongresses führen können?

Nun wird diese Nation weiter abgebaut von den Republikanern mit der Hilfe dieses früheren Präsidenten und gescheiterten Putschisten. Sie stellen die Macht in zu vielen Bundesstaaten mit der Möglichkeit, den Kongress 2022 zurückzuerobern und die Präsidentschaft 2024.

Vergessen wir nicht das Offensichtliche. Mitten in einer fortschreitenden Pandemie und dem Abbau der Nation in einem bedrückenden Stadium geht ein anderer Abbau vor sich – und er ist nicht weniger gefährlich. Wir leben auf einem Planeten, der ebenfalls in einem Abbauprozess begriffen ist. Während der Weihnachtszeit erreichten uns Nachrichten über extreme Wetterereignisse weltweit: von einem vernichtenden Taifun auf den Philippinen über steigende Fluten in Teilen Brasiliens bis hin zum Schmelzen des Thwaites Gletschers in der Antarktis. Alles dramatische Entwicklungen, um es noch vorsichtig auszudrücken.

In den letzten Wochen des Jahres 2021 wurde hierzulande das Wort "Rekord" mit Wetterereignissen in Verbindung gebracht, die von beispiellosen Tornados über winterliche Hitzewellen, Schneestürme und sintflutartige Regenfälle bis hin zu – ausgerechnet in Alaska – stark ansteigenden Temperaturen reichten. Wir sehen uns einem so noch nie dagewesenen Klimawandel gegenüber, einem Notfall, so dass die Republikaner und „moderate“ Demokraten wie Joe Manchin offenkundig bereit sind, nicht nur die Nation, sondern auch den Planeten abzubauen, unterstützt von den übelsten Kriminellen der Geschichte. In diesem Fall meine ich nicht Donald Trump und seine Crew, sondern die CEOs der fossilen Treibstoffkonzerne.

Deshalb frage ich mich: Wenn wir trotz allem davon ausgehen, dass Armageddon nicht wirklich passieren wird und uns alle im Staub (oder Wasser bzw. Feuer) zurück lässt – wenn Sie eines Tages Ihren Enkelkindern von der Welt dieser Tage und was wir durchgemacht haben erzählen, wird die Pandemie 2010–?? und die Klimakrise 1900–21??  vergessen sein?  Werden diese ganzen Alpträume der Gegenwart viele Jahrzehnte später nur als kleine Randnotizen im Tagebuch eines alten Verwandten auftauchen?

Zu Beginn von 2022 kann ich das nur hoffen, was wiederum kein traurigeres Fazit unserer Zeit sein kann.

END/nna/ung

Über den Autor:
Tom Engelhardt (Jahrgang 1944) ist Absolvent der Yale und der Harvard University  und ein amerikanischer Autor und Blogger.  1998 erschien sein Buch: The End of Victory Culture: Cold War America and the Desillusion of a Generation. Er war senior editor bei Pantheon Books.

Mit freundlicher Genehmigung von Southern Cross Review.  
(Übersetzung: C. Unger-Leistner)

Bericht-Nr.: 220126-02DE Datum: 26 Januar 2022

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Bild: Southern Cross Review