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„Zeitgemäße Esoterik muss vom Denken ausgehen“

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By NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

NNA-GESPRÄCH | Welche Impulse kann der meditative Schulungsweg von Georg Kühlewind heute in einer Welt bringen, in der immer mehr Menschen nach Orientierung suchen? Ein Interview darüber mit dem Kühlewind-Biografen Prof. Laszlo Böszörmenyi.

Welche Impulse kann der Erkenntnisweg von Georg Kühlewind geben in der heutigen Zeit, in der viele Menschen nach Orientierung im immer undurchsichtigeren Weltgeschehen suchen? NNA hat mit dem Kühlwind-Biografen Prof. Laszlo Böszörmenyi über dieses Thema gesprochen.

KLAGENFURT/ÖSTERREICH (NNA)NNA: Wenn man nur die Einleitung zu diesem Interview schreibt, kommt man bei Georg Kühlewind schon ins Stocken – was war er, wenn man ihn jetzt einmal wissenschaftlich einordnen möchte? Ein Philosoph, ein Erkenntnistheoretiker?

Prof. Böszörmenyi: Ich weiß es nicht, er war eben jemand, den man nicht einordnen kann, und das ist kein Zufall. Er hat Naturwissenschaften studiert, war Chemiker und auch ein sehr erfolgreicher – seine Erfindung, ein Löschpulver, wurde jahrzehntelang von der ungarischen Feuerwehr benutzt. Mit 56 Jahren hat er sich dann pensionieren lassen und sich nur noch der Geisteswissenschaft gewidmet. Ein Philosoph war er nicht, aber philosophisch sehr gebildet, sein Hauptanliegen war die Erkenntnispraxis. Er hat eine kontemplative, meditative Erkenntnispraxis erarbeitet, ausgehend von der Arbeit von Rudolf Steiner, aber er hat diese sehr weitgehend weiterentwickelt. Ich denke, die besten Schüler von Steiner sind diejenigen, die eigene, ganz andere Dinge sagen als Steiner selbst ...

NNA: Warum könnte Kühlewind gerade heute wichtig sein für all diejenigen, die eine meditative Praxis suchen, sie aber derzeit eher bei den buddhistischen Strömungen finden?

Prof. Böszörmenyi: Das ist eine sehr schmerzhafte Frage, auch Georg hat sie sehr wehgetan. Sehr viele junge – aber auch ältere – Leute sind sehr dringend auf der Suche und suchen eigentlich genau das, was die Anthroposophie anbieten kann, vor allem eben in der Form, wie Kühlewind sie weiterentwickelt hat – aber sie finden es nicht.

Ich will nicht sagen, dass andere Wege wie z.B. Zen falsch sind, sie sind auf ihre Art auch richtig, aber eben nicht unbedingt auf den heutigen modernen Menschen zugeschnitten. Der Schulungsweg, wie ihn Kühlewind entwickelt hat, geht vom Denken aus. Heute ist das Denken der hellste und autonomste Punkt im Menschen oder – wie ich es auch in meinem Buch formuliere – der letzte dünne Faden, der uns noch mit der geistigen Welt verbindet.

Wenn ich etwas verstehe, entsteht Helligkeit im Bewusstsein, und auf das Licht des Denkens darf man nicht verzichten; jede „Spiritualität“, die sich mit weniger Helligkeit begnügt und mehr auf angenehme Gefühle setzt, geht in die falsche Richtung. Meditation führt über das Denken hinaus, aber nicht so, dass man es beiseiteschiebt – das geht auch gar nicht. Das Denken soll aber so hell und intensiv werden, dass es sich umwandelt. Dieser Weg der Erkenntnisschulung ist nicht spektakulär, aber heute suchen die Menschen eher das Spektakuläre.

NNA: Das klingt nach einem steinigen Weg, aber woher soll man die Motivation dafür nehmen, warum sollte man das überhaupt machen?

Prof. Böszörmenyi: Das muss man selbst wissen. Letztlich sucht man doch sich selbst – Kühlewind hat formuliert: „Die Aufmerksamkeit sucht sich selbst“; wenn sie sich in der höchsten Konzentration findet, findet man auch sich selbst; das höhere Ich ist dann aufgewacht. Wenn ich wissen will, wer ich wirklich bin, muss ich mich schon auf diesen Weg machen.

NNA: Es wird in der Biografie ja angesprochen, dass das Leben in den westlichen Konsumgesellschaften eher nicht dazu angetan ist, die Menschen nach höheren Bewusstseinsformen streben zu lassen. Welche Rolle haben die außergewöhnlichen Lebensumstände von Kühlwind bei seinen Forschungen und auch seiner Beharrlichkeit gespielt? Er war ja in seinem Leben zwei totalitären Systemen ausgesetzt, die seine Lebensverhältnisse bedingt haben.

Prof. Böszörmenyi: Das hat sicherlich eine Rolle gespielt; die Ernsthaftigkeit des Lebens war dort schon eher erlebbar – aber auch nicht für alle, im Sozialismus träumten auch viele von westlichem Konsum und wie schön es wäre, das alles zu haben.

Kühlewinds Weg war völlig individuell, weil er ein solch freier Mensch war, sich wirklich befreit hatte. Freiheit wird einem eben nicht gegeben, man kann sie sich nur erarbeiten. Kühlewind hat das weitgehend getan, und er war dadurch nicht von den Umständen abhängig, unter denen er gelebt hat. Das waren seine unglaublichen inneren Kräfte, seine Lockerheit, sein Humor, die man erleben konnte.

NNA: Er hat ja auch den Eisernen Vorhang überwunden durch sein Denken....

Prof. Böszörmenyi: Ja, und das ging ja eigentlich gar nicht; er hat es aber getan und es war auch nicht ungefährlich, es gab schon Anzeichen dafür, dass er beobachtet worden ist. Aber wenn man im KZ war, hat man auch einen anderen Begriff von Gefährdung ...

NNA: Wenn wir jetzt einmal weiter nach Osten schauen: Kühlewind hat sich ja auch intensiv mit dem Zen befasst und mit anderen östlichen Meditationspraktiken. Welche Auswirkungen hatte das?

Prof. Böszörmenyi: Es war sehr wesentlich, dass Kühlewind schon meditieren konnte, als er dem Zen begegnete; er hatte da seine eigene Meditationspraxis schon entwickelt, eben auf diese moderne Weise, die vom Denken ausgeht. Das hat ihn in die Lage versetzt, den Zen dann auch in einer ungewöhnlichen Tiefe und Liebe zu verstehen. Dadurch hat er sich sehr intensiv hineingearbeitet und hat auch viel davon aufgenommen.

Vor allem in den letzten Jahren war er wie ein Zen-Meister, wenn auch nicht äußerlich – Äußerlichkeiten waren ihm nicht wichtig – , er hat immer weniger gesprochen, oft auch solch kurze, widersprüchliche Sätze, wie es im Zen üblich ist – er war für alles offen, wo die Geistigkeit wahrnehmbar war. Da er das Geistige in der ursprünglichen Form, nämlich formlos erfahren hat, konnte er es in jeder Form erkennen. Die großen Zen-Meister sprechen natürlich aus einer unglaublich hohen Geistigkeit – das hat er erkannt.

Aber Georg war auch ein ganz außergewöhnlich tiefer Kenner der Bibel; er hat sich sowohl mit dem Alten als auch dem Neuen Testament sehr intensiv auseinandergesetzt, insbesondere mit dem Johannes-Evangelium und auch mit der Offenbarung. Auch für den Sufismus hat er sich interessiert; davon war er zwar nicht so begeistert, aber er hat auch da herausgeholt, was er herausholen konnte. Wo er Geistigkeit gesehen hat, hat er das aufgenommen.

NNA: Wenn wir jetzt einmal von der Bewusstseinsentwicklung weiter gehen zum Zusammenleben der Menschen, das ja heute durch diese vielen Polarisierungen auch sehr gefährdet ist: Es gab auch Ideen, auf der Basis des Werks von Georg Kühlewind Gemeinschaften zu bilden – was ist daraus geworden? Derzeit ist ja die Frage sehr aktuell, wie die Menschen wieder mehr zusammenkommen können.

Prof. Böszörmenyi: Soviel ich weiß, wurde nicht versucht, die Idee im Großen zu realisieren. Es gab ein paarmal Angebote, Dorfgemeinschaften zu bilden, und Kühlewind selbst war immer wieder zu Gast in den Camphill-Dörfern. Er war nicht abgeneigt, solche Gemeinschaften zu bilden, hatte aber strenge Bedingungen: Er forderte dafür eine regelmäßige meditative Praxis und dass jeder einem normalen Beruf nachgehen sollte. Einen Versuch, rund um die Uhr nur in der Geistigkeit aufzugehen, sah er zum Scheitern verurteilt …

Diese Gemeinschaften sind so nicht entstanden, aber es gibt die Übungsgruppen, die sich regelmäßig treffen, und das ist auch eine konkrete Erfahrung menschlicher Gemeinschaft. So wie ich es erlebt habe, schon als junger Mann in der Übungsgruppe von Georg, kann sich dort zwischen den Menschen ein viel tieferes, innigeres Verhältnis entwickeln. In meinem Fall sind daraus Freundschaften entstanden, die bis heute gehalten haben. Man kann es auch andersherum sagen: Es gibt heute keine andere Gemeinschaftsbildung als diejenige, die auf freier geistiger Arbeit beruht.

NNA: Eine Frage zum Thema Freundschaft: Es gibt in den Reihen der Kritiker der Anthroposophie auch den Vorwurf an Georg Kühlewind, dass er mit dem italienischen Anthroposophen Massimo Scaligero (1906 – 1980) befreundet gewesen war und auch Werke von ihm übersetzt hat. Nun hat Scaligero ja definitiv antisemitische und rassistische Texte veröffentlicht. Kühlewind selbst war jüdischer Herkunft – wie passt das zusammen?

Prof. Böszörmenyi: Kühlewind war eben völlig ohne Vorurteile. Er hat auch sonst mit Menschen zusammengearbeitet, bei denen Freunde sich nur gewundert haben. Durch den Blick auf das Wesentliche konnte er ihren besseren Teil hervorlocken.

Mit Scaligero ist es noch etwas Anderes. Er muss ein unglaublich begabter Mensch gewesen sein – persönlich habe ich ihn nicht gekannt. Seine lebendige Spiritualität muss einen großen Eindruck auf den jungen Kühlewind gemacht haben. Wie Scaligero diese zwei Züge in sich tragen konnte, weiß ich nicht – ich habe ja keine Biografie über ihn geschrieben und ich habe es auch nicht vor. Das ist sicherlich ein Rätsel.

Das wird es geben, dass insbesondere Menschen, die so begabt sind, auch dunkle Seiten haben. Auch Steiner hatte übrigens seine nicht so hellen Seiten. Viele Anthroposophen bestehen darauf, dass Steiner als unfehlbar betrachtet werden muss. Georg hat immer gesagt: „Was für ein Monster müsste Steiner sein, wenn das stimmen würde“. Ein Mensch, der sich nicht irren darf, ist ein Monster. Maschinen irren sich nicht. Aber Menschen irren sich, nicht nur in philosophischen Aussagen, sondern auch in Gefühlsangelegenheiten kann sich ein jeder Mensch irren, das schließt aber nicht aus, dass ein Mensch liebenswürdig ist.

Kühlewind hat in Scaligero die grandiose, liebenswerte, spirituelle Seite klar gesehen, die dunkle Seite nicht. Es kann auch sein, dass sie nicht mehr da war, dass Scaligero diese dunkle Seite längst weggearbeitet hatte – ich weiß es nicht.

NNA: Nun gibt es ja aber auch diesen Einwand gegenüber der ganzen Esoterik, weil man schon öfter esoterische Personen in der rechten politischen Ecke angetroffen hat; es gab ja auch im Nationalsozialismus in der Führungsriege Leute, die eine Tendenz in die esoterische Richtung hatten. Und dadurch entsteht immer die Diskussion, ob in der Esoterik und dieser Art Bewusstseinsentwicklung nicht per se etwas drin ist, was vormodern und antiwissenschaftlich ist.

Prof. Böszörmenyi: Doch, sehr oft ja. Darum ist es so wichtig, was ich am Anfang gesagt habe: Die zeitgemäße Esoterik muss über das Denken gehen. Das Denken ist zuerst zu reinigen, um dann zu den höheren Fähigkeiten zu kommen. Aber die Menschen, die dazu zu faul sind und eine schnelle Erleuchtung suchen, tun das nicht, und dadurch geraten sie in die unterschiedlichsten Fallen.

Die Ehrlichkeit ist eine absolut zentrale Angelegenheit. Wenn man sich Weisheiten einredet, die man nicht selbst erarbeitet, sondern nur zusammengehört, zusammengelesen hat, dann betrügt man sich und andere.

NNA: Ist nicht ein Vorteil des Übungswegs von Kühlewind der Austausch, wo die Gruppe eine größere Rolle spielt, auch als Korrektiv?

Prof. Böszörmenyi: Absolut, in der Alltagspraxis dieser Gruppen ist es oft Thema, warum etwas nicht gelingt – und wenn man darüber ehrlich spricht, dann hilft man sich und anderen auch.

NNA: Das heißt, die Arbeit in diesen Übungsgruppen unterscheidet sich schon wesentlich von diesen normalen anthroposophischen Arbeitsgruppen, die zusammensitzen, Steiner-Texte lesen und sie interpretieren?

Prof. Böszörmenyi: Kühlewind hat definitiv abgelehnt, mit dem Alltagsverstand auf Steiner reflektieren zu wollen, z.B. Referate darüber zu halten, was man in einem Steiner-Vortrag gelesen hat. Steiners Texte sind zu einem großen Teil meditative Texte. Wenn ich nicht meditieren kann, dann kann ich sie nicht verstehen, so wie ich, wenn ich nicht Noten lesen kann, nicht nach Noten musizieren kann. Und wenn Menschen sich das einbilden, dann geht das in eine völlig falsche Richtung, und man bemerkt es gar nicht.

NNA: Kühlewind hat ja auch gesagt, die abstrakte Erklärung der Welt durch die Anthroposophie führe nirgendwohin. Das ist ja auch genau das, was man jetzt in der Pandemie beobachten konnte – diese Verschwörungstheorien, wo eben die Anthroposophie heranzogen worden ist, um eine Weltdeutung in einem sehr undurchschaubaren aktuellen Kontext zu liefern. Das ist dann auch schlimm ausgegangen, und das Image der Anthroposophie hat dadurch sehr gelitten. Das wäre sicherlich von Kühlewind kritisiert worden?

Prof. Böszörmenyi: Das zu sagen, maße ich mir nicht an, aber ich finde es größtenteils sehr bedauerlich, wie das gelaufen ist und auch noch weiterläuft. Ich versuche es mal ein bisschen ironisch: Wenn man viel Steiner liest, der ja offensichtlich ein sehr weiser Mensch war, kann man sich dadurch einbilden, jetzt auch ein weiser Mensch geworden zu sein und glauben, über alles eine bessere Meinung haben zu müssen. Das ist aber ein lächerlicher Fehlschluss.

Wie Steiner diese Lage beurteilt hätte, weiß ich nicht und muss es auch nicht wissen. Ich muss mich fragen: Kann ich selbst etwas dazu sagen? Wenn ich das nicht wirklich kann, ist es auch eine Option, dass ich den Mund halte.

NNA: Eine Frage zum Schluss: Es gibt diese Übungsgruppen in vielen Ländern – Sie haben es angesprochen –, aber es ist keine Organisation. Sie haben keine Öffentlichkeitsarbeit, keinen Pressesprecher, es gibt kein Kühlewind-Magazin – wie soll es denn mit dieser Arbeit weitergehen?

Prof. Böszörmenyi: Bis zu einem gewissen Ausmaß wäre es nicht schlecht, mehr an die Öffentlichkeit zu gehen, und einige Menschen tun das auch; Robert Paul und Annegret Holland z.B. betreiben eine Website, wo man die Übungsgruppen finden kann.

Manchmal wünsche ich mir sehr, dass das, was Kühlewind getan hat, einer großen, breiten Öffentlichkeit bekannt wird, weil ich absolut sicher bin, dass es sehr vielen Menschen helfen würde. Andererseits denke ich, dass diese Arbeit im Hintergrund, in der Stille vermutlich doch besser ist. Die Öffentlichkeit macht heute doch auch alles schnell kaputt.

NNA: Dann hoffen wir, dass unser Gespräch einen Mittelweg bildet und Menschen neugierig macht, den „Kühlewind-Pfad‘“ für sich auszuprobieren. Vielen Dank für das interessante Gespräch!

END/nna/ung

Das Gespräch führte Cornelie Unger-Leistner

Literaturhinweise:
Laszlo Böszörmenyi (2022): Georg Kühlewind – Ein Diener des Logos. Stuttgart ISBN 978-3-7725-3150-7, 296 Seiten.
Ders. (2020): Mondenlicht – Sonnenlicht. Die Umkehr zur Quelle der wissenschaftlichen Denkweise. Frankfurt ISBN 978-3-95779-125-2, 149 Seiten.

Bericht-Nr.: 221128-01DE Datum: 28. November 2022

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Georg Kühlewind (rechts) und Laszlo Böszörmenyi (links) in den 1980er Jahren in Zürich im Gespräch (Foto: Privat)
Georg Kühlewind (Foto: Charlotte Fischer)
Laszlo Böszörmenyi (Foto: Annegret Holland)